Michaela Huber, Jahrgang 1952, ist psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Sie ist seit deren Gründung 1. Vorsitzende der deutschsprachigen Sektion der ISSD (International Society for the Study of Dissociation) und Mitbegründerin des Zentrums für Psychotraumatologie in Kassel. 2008 erhielt sie für ihren Einsatz für traumatisierte Menschen das Bundesverdienstkreuz.
Leseprobe:
Was bedeutet, permanent Angst zu haben Die Hauptgefühle einer multiplen Persönlichkeit sind Panik und Entsetzen. Die Welt ist ein Ort voller potenzieller Auslöser. Auslöser, die im Innern der Multiplen ein wüstes Durcheinander bewirken und "Switches", also "Personenwechsel" herbeiführen können. Die Welt ist, mit anderen Worten, voller Erinnerungen. Erinnerungen, die angetippt werden, wenn ein Mädchen mit Pferdeschwanz die Straße entlanggeht, ein Magnolienbaum blüht, eine Polizeisirene losgeht, ein Krankenwagen vorbeifährt, wenn jemand zu ihr sagt, sie sei "süß" oder "lieb", wenn sie frisch gebackenes Brot riecht, wenn sie Milch trinkt, wenn sie ein Baby schreien hört, wenn jemand sie berührt, wenn sie den Wagen einer bestimmten Automarke sieht - wenn irgendetwas geschieht, das irgendwie mit irgendetwas in ihrem Innern korrespondiert, und die Reihe der Dominosteine zu fallen beginnt. Dann nämlich werden Bestandteile von Traumasituationen, ohne dass sie irgendetwas dagegen unternehmen kann, re-assoziiert, also wieder zusammengefügt, die vorher abgespalten waren. Dann kommt es nicht selten zu einem "Flashback", und die Hauptgefühle beim Wiedererleben einer Traumasituation sind Panik und Entsetzen. Irgendein Bestandteil dessen, was sie in der Außenwelt sieht, hört, riecht, schmeckt oder fühlt, kann dazu führen, wie es eine meiner multiplen KlientInnen zu sagen pflegt, "dass da innen der Punk abgeht". Dann kommt eine "Person" näher an die Oberfläche (oder mehrere gleichzeitig), die diese Auslöser kennt. Wie aufs Stichwort ist sie da, gleichgültig, welches die Erfordernisse der Situation sonst noch sein mögen. Plötzlich sitzt ein "Kind" am Steuer des Wagens, ein "Baby" plappert in der Kollegenrunde, ein rabiater "Beschützer" befreit sich mit Gewalt aus einer Umarmung, ein "Zerstörer" richtet das Zwiebelmesser aufs eigene Handgelenk oder versucht aus dem Fenster zu springen, oder schlägt mit aller Wucht den Kopf gegen die Wand etc. Nicht allen Multiplen ist alles davon schon einmal passiert, den meisten aber hin und wieder das eine oder andere. Und mehr. Entscheidend für die permanente Anwesenheit von Angst in hochdissoziativen Menschen sind: - die große Zahl potenzieller Auslöser für "Personenwechsel" in der Außenwelt (Außenreize) - die große Zahl möglicher neuer Traumasituationen (erneute Traumata mit neuen Außenreizen, aufgrund der Spaltung nicht vorhersehbar) - die große Zahl potenzieller Reaktionen im Innern sowie die große Zahl der Erinnerungsbestandteile, die spontan in Gewalt von (Tag-)Träumen, Visionen etc. ins Bewusstsein schwemmen (Innenreize) - die große Zahl der durch Amnesiebarrieren (Nicht-Wissen) voneinander getrennten Anteile, die in für sie völlig unübersichtliche Situationen geraten können und möglicherweise "Unsinniges" oder Gefährliches tun oder reden - und, vor allem: die Tatsache, dass sie sich selbst nicht glauben. Multiple Persönlichkeiten leben in ständiger Angst, entdeckt, enttarnt, als "Lügnerin" oder "Verrückte" erkannt zu werden. Sie glauben sich selber nicht ("Ich erfinde das alles nur"), sie trauen sich nicht über den Weg ("Nie kriege ich alles mit, irgendetwas in mir klinkt dauernd aus"), sie haben Angst, sich jemandem anzuvertrauen, aus Furcht, als "Bekloppte" zu gelten oder "in die Klapse" eingewiesen zu werden. Und sie haben diese Furcht nicht nur, weil sie wissen, dass andere Menschen das, was sie erleben, für "verrückt" halten würden. Sondern weil sie sich selbst für verrückt halten. Gerade die Tatsache, dass Dissoziative sich in der Regel selbst nicht trauen und nicht gelernt haben, dem zu glauben, was die Innenbilder und -stimmen ihnen an Wahrheiten vermitteln, macht ihnen so viel Angst.