Quelle:http://www.welt.de/welt_print/article1092074/Wenn_Menschen_nicht_mehr_wollen_koennen.html
Wenn Menschen nicht mehr wollen können
Berlin - Mit zwölf Jahren musste Petra wieder wie ein Baby getragen werden. Ihre Beine waren wie Gummi - die Schwerkraft riss sie zu Boden. Die Symptome? Ein Rätsel. Es folgte eine medizinische Odyssee durch Krankhäuser und Arztpraxen - ohne Ergebnis. Erst eine Untersuchung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik brachte es an den Tag. Die Diagnose: Petra war an einer dissoziativen Störung erkrankt.
Die Gruppe der dissoziativen Störungen ist eines der facettenreichsten und auf den ersten Blick rätselhaftesten psychischen Erkrankungsbilder. Patienten mit dieser Erkrankung zeigen auf zwei Ebenen dramatische Symptome. Auf der Körperebene kann sich die Erkrankung in Lähmungen, Bewegungsstörungen, Krampfanfällen und Empfindungsstörungen wie Seh- und Hörstörungen ausdrücken - all das ohne organischen Befund, der das Ausmaß der Symptome erklären könnte. Neben dem Körper können sich dissoziative Störungen auf der Ebene des Bewusstseins zeigen: Hier kommt es zu Gedächtnisverlusten, starken Entfremdungsgefühlen oder Identitätsstörungen.
Google Anzeige
apetito Shop
Köstliche Fertiggerichte. Jetzt mit Geldzurückgarantie!
http://www.apetito-shop.de
Mit präzisen Angaben zur Häufigkeit dieser rätselhaften Krankheit tut sich die Wissenschaft bislang schwer: Die Angaben schwanken zwischen zwei und zehn Prozent der Allgemeinbevölkerung, die betroffen sind. Dissoziative Störungen gehören, wie unter anderem auch die Posttraumatische Belastungsstörung, zur Gruppe der reaktiven, stressbezogenen psychischen Erkrankungen.
Ihre Entstehung wurde bislang überwiegend psychodynamisch erklärt: Die körperlichen Symptome wurden - Freuds Hysteriekonzept folgend - als symbolische Verschiebungen von inneren Konflikten und die Bewusstseinsstörungen als Abspaltungen von Trauma-Erfahrungen betrachtet.
Doch seit einigen Jahren öffnet sich der wissenschaftliche Horizont: Mit neurobiologischen Untersuchungen versuchen Wissenschaftler der rätselhaften Erkrankung sprichwörtlich auf den Leib zu rücken. So entdeckten Forscher bei Patienten mit dissoziativen Bewegungsstörungen Minderaktivierungen im Basalganglien-Thalamus-Schaltkreis und im präfrontalen Kortex entdeckt - Hirnbereiche, die für willentliche Handlungsaufnahme und Handlungskontrolle zuständig sind. Nach Meinung von Wissenschaftlern werden diese Gebiete wahrscheinlich von emotionalen Stressoren gehemmt, die über emotionsverarbeitende Hirnbereiche wie dem Limbischen System ihre Wirkung entfalten.
Dieses Ergebnis könnte Betroffenen, Behandelnden und Angehörigen erste Sicherheit geben, dass eine dissoziative Bewegungsstörung nicht auf Einbildung oder Simulation beruht, sondern auf einer gestörten willentlichen Kontrolle der Motorik. Oder wie es der englische Arzt James Paget bereits 1873 treffend formulierte: "Der Patient sagt: ,Ich kann nicht', es sieht aus wie: ,Ich will nicht', aber es ist: ,Ich kann nicht wollen'."
Auch der Blick auf die dissoziativen Bewusstseinsstörungen weitete sich in den letzten Jahren. Bei Patienten mit schweren Depersonalisationsstörungen wurden abnormale Aktivitäten in den Bereichen des Neokortex gefunden, wo visuelle, akustische und körperliche Empfindungen interpretiert und quasi für das Bewusstsein aufbereitet werden. "Ich fühle mich fremd in meinem eigenen Körper" - nach diesen Ergebnissen könnten Störungen in sensorischen Hirngebieten das verstörende Gefühl widerspiegeln.
Bei den dissoziativen Amnesien scheint nach aktuellem Kenntnisstand besonders eine Hirnstruktur eine Schlüsselposition einzunehmen - der Hippocampus. Denn das "Seepferdchen", eine Hirnstruktur im Inneren des Schläfenlappens, ist für die Übertragung vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis zuständig, aber auch durch eine hohe Dichte an Rezeptoren für Stresshormone wie Glucocorticoide extrem angreifbar. Dies erklärt nach Meinung von Wissenschaftlern, warum überwiegend traumatische Erfahrungen von der Erinnerungslosigkeit betroffen sind.
Die dissoziative Identitätsstörung, auch multiple Persönlichkeitsstörung genannt, gilt als Folge schwerer Traumata. Forscher berichten, dass Patienten mit dieser Störung normale, alltagstaugliche und emotionale, traumatisierte Persönlichkeitszustände entwickeln. Doch die Diagnose ist heftig umstritten: Kritiker sehen diese Störung als Modediagnose oder durch therapeutische Suggestion und Medieneinflüsse hervorgerufen. Einige Forscher gehen vom Gegenteil aus: So erschien Ende vergangenen Jahres ein Artikel im "Deutschen Ärzteblatt", in dem die Autoren anprangerten, dass Patienten mit dieser Störung häufig gar nicht oder fehl diagnostiziert werden - sie gehen davon aus, dass zwischen 0,5 und 1,0 Prozent der Bevölkerung und 5,0 Prozent der psychiatrischen Patienten betroffen sind.
Bei Petra war Überforderung die Ursache für die dissoziative Bewegungsstörung. Sie hatte mit den für sie zu hohen schulischen Anforderungen nicht mehr Schritt halten können, jeder Tag in der Schule war für das kleine Mädchen großer Stress. Während bei der dissoziativen Bewusstseinsstörung überwiegend Trauma-Therapie verordnet wird, stützt sich die Therapie bei körperlichen Symptomen, wie sie Petra zeigte, auf zwei Pfeiler: weg mit der Überforderung, dazu intensive Krankengymnastik. Petra wurde außerdem langsam auf eine angemessene Schulform vorbereitet. In diesem therapeutischen Rahmen lernte das kleine Mädchen langsam, Schritt für Schritt, wieder das Laufen. Auch die Kontrolle über ihren Willen kam zurück: Petra konnte wieder laufen wollen.