Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Ãœbersetzung von Emer Seilern




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Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Übersetzung von Emer Seilern

Beitragvon gimeon » Do 22. Jan 2015, 10:30

Liebe KollegInnen und Betroffene,
der Text von Cathy spricht mir aus der Seele - für mich eine Aufmuterung weiter zu machen auch wenn ich noch so viele Mauern wegräumen muß, in mir selbst und auch bei "Vielen" :)
In diesem Sinne: "Nicht aufgeben!"

Cathy Steele: "Sitting with the Shattered Soul" (1988)


- einer zersplitterten Seele beistehen -



Im letzten Jahrhundert hat uns die Arbeit mit Misshandlungsopfern - vor allem die Arbeit mit Menschen, die unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leiden, einige exquisite Lektionen - erfüllt mit Anmut und Weisheit - gelehrt. Dies waren Lektionen über Heilung, über die Schönheit unserer Menschlichkeit, über unsere Verbundenheit, über unsere Aneignung von Macht und Freiheit, über das transzendierte Selbst. Es gibt auch andere, dunklere Lektionen – Lektionen über unermessliche Unmenschlichkeit, über endloses Leiden, über Verwirrung und Verzweiflung – über das Böse. Als Therapeuten sind wir immer mehr mit den Überlebenden von schweren Misshandlungen konfrontiert und werden dazu gedrängt neue und persönliche Rahmenbedingungen aufzustellen, innerhalb welcher die Auswirkungen der Erfahrungen von Patienten einzuordnen sind. Alle Therapeuten die ich kenne und welche diese Arbeit verrichten, wurden zumindest einmal unvorbereitet durch die Gräuel dieser Geschichten in Schrecken versetzt. Ihre eigene Verwundbarkeit und Hilflosigkeit angesichts solchen Formen des Missbrauchs, ist überwältigend. So ist das Böse. Ich kenne kein anderes Wort dafür. Die Wissenschaft hat uns hier im Stich gelassen, weshalb ich mich auf den spirituellen Sprachschatz beziehen will. Ich beziehe mich nicht auf "simple" Körperverletzung, Inzest, und Vernachlässigung. Ich beziehe mich auf das, was jetzt als "kreativer" Missbrauch bezeichnet wird, kreativ im euphemistischen Sinne – im Sinne von außergewöhnlich sadistisch, bizarr, entsetzlich; manchmal organisiert und vorgeplant.

Überlebende erzählen über ihre Erfahrungen lebendig begraben, physisch in unvorstellbarer Weise gefoltert, sexuell verstümmelt und misshandelt, gefesselt und geknebelt, ausgehungert, und zwangsernährt (manchmal auch involviert mit Kannibalismus) zu werden. Auch werden sie mit Schlafentzug, systematischer Entwürdigung und Demütigung gefoltert, ebenso werden sie unter Drogen gesetzt, Gehirnwäschen unterzogen, und in völliger Dunkelheit alleine gelassen. Jede dieser Erfahrungen kann verheerend sein: man sollte sich vorstellen, was passiert, wenn die gesamte Kindheit einer Person eine Zusammensetzung von solchen Qualen ist. Diese Arten von Traumata fragmentieren oft die psychische Collage, die wir als das "Selbst" bezeichnen, und erschaffen die multiple Persönlichkeitsstörung. Ich glaube, dass diese Traumata auch die Seele zersplittern oder zumindest tief verwunden, – die Seele – das essentielle Dasein einer Person, die mehr ist als ein psychologisches Selbst.

Keiner von uns hat sich besonders auf die Auseinandersetzung mit solch schwerem Missbrauch vorbereitet. Die Arbeit mit Holocaust-Überlebenden und mit anderen Opfern politischer Folter und Krieg ist die, mit der wir dem am nähesten gekommen sind. Diese kollektiven persönlichen Tragödien entstehen jedoch aus einem sozio-politischen Kontext. Dies ist das Böse, welches durch unpersönliche Fremde verübt wird. Was ist, wenn der Kontext die Familie ist? Was ist, wenn die Täter Väter, Mütter, Onkel, Brüder sind, die Menschen, die uns lieben, hegen und schützen sollten? Was ist, wenn der Fels in der Brandung – unser einziger Zufluchtsort - uns zerbricht?

Während diese neuen Dimensionen des Bösen und des Leidens, der Sinnlosigkeit, der Einsamkeit und Vernichtung in unsere komfortablen Büros eindringen, kämpfen wir aufs Neue mit alten existentiellen Fragen. Somit werden unsere eigenen unverheilten Verletzungen, welche auch immer diese sein mögen, sofort und tief berührt. Wir hören wie unsere tiefsten, eisigsten Ängste in diesen Geschichten umgesetzt werden und direkt vor uns sehen wir die Verwüstung. Wir fragen uns - welchen Preis ist das Überleben wert? Wenn sie uns vom Ort ihrer tiefsten Verzweiflung fragen: ”Warum soll ich weiterleben?“, muss unsere Antwort bereit stehen und darf nicht unbedacht sein. Wir müssen es WISSEN; dies ist eine Antwort die nicht aus dem Verstand, sondern aus der Seele kommen muss.

Solche Menschen die zu uns kommen, beherbergen ihren eigenen privaten Holocaust, sie sind von ihren eigenen unerträglichen Begegnungen mit Vernichtung und Unmenschlichkeit stark geschwächt. Durch sie haben wir unsere eigenen Begegnungen, mit denen wir ringen müssen. Aber im Gegensatz zu Jakob und im Gegensatz zu Freud haben wir nicht nur mit Träumen, Fantasien und intrapsychischen Kriegen zu ringen. Die Menschen, die in unseren Büros sitzen, kennen die zersplitternde Realität ihres eigenen Blutes, was den Boden bespritzt; die deutlichen Narben ihrer Körper und Seelen treiben uns zu unseren zitternden Begegnungen.

Therapeuten können selbst ihre eigene Form der posttraumatischen Belastungsstörung als Reaktion auf die Arbeit mit Überlebenden solch eines schweren Missbrauchs erleben. Besonders zu Beginn einer solchen Arbeit erleben die meisten von uns eine Kombination aus Schlafstörungen, Alpträumen, Appetitlosigkeit, Angst, Betäubtheit, extremer Wachsamkeit, Unruhe und Überbeschäftigung mit dem Inhalt des Missbrauchs; manchmal die Infragestellung unserer eigenen Sicherheit, manchmal die Aufdeckung unserer eigenen Geschichte von Missbrauch. Irgendwann sind die meisten von uns in der Lage sich von der Reaktion auf den Inhalt, zu dem Sein mit dem Prozess zu bewegen. Wir entdecken, dass während wir zu einem Teil des Prozess der Überlebenden werden, diese Erfahrung wiederum Teil unseres eigenen persönlichen Prozesses wird. Und wenn wir bereit sind an unserem eigenen Prozess teilzunehmen, können wir von Reaktion zu Taten, und von Ratlosigkeit zu Hoffnung übergehen, auch wenn sich dies vielleicht nur langsam entwickelt und es schmerzhaft und beängstigend sein kann.
Die Heilung, die im Laufe der Zeit erfolgt (und Heilung wird kommen), berührt uns, erfüllt uns mit einem feierlichen Wunder, mit einem Gefühl von Sinn und Bedeutung. Wir (Therapeut und Patient) wissen endlich, warum wir gekämpft haben um diese unmögliche Arbeit zu verrichten. Ich habe diese Erfahrung der Heilung an anderer Stelle mitgeteilt und will in keinster Weise ihre Bedeutung unterschätzen. Dies ist wofür wir arbeiten. Was ich hier ansprechen will, ist die lange Reise der Nacht bevor der Tag kommt, es ist die Zeit vor der Morgendämmerung und der Hoffnung.

Sobald wir uns dem Unsäglichen nähern, wir das Unbegreifliche erfahren, wir mit jemandem eine Sitzung halten, der das Unerträgliche erlebt hat, entsteht ein bösartiger Ruck. Was können wir tun, wenn alle unsere sorgfältig konstruierten Antworten auf die Fragen von Leben und Tod, Gut und Böse, um uns herum zusammenstürzen wie ein Kartenhaus?
Als Therapeuten sind wir oft damit beladen die Heilung einer verletzten Psyche zu ermöglichen; dies ist vertraut. Aber was ist wenn wir zu diesem fassungslosen Moment kommen, wo wir plötzlich erkennen, dass es noch mehr gibt: wenn wir zur erschütternden Erkenntnis gelangen, dass wir nicht bloß psychische Schäden reparieren, sondern dass wir uns von Angesicht zu Angesicht mit einer zersplitterten Seele befinden? Wie viele von uns sind darauf vorbereitet?
Und wenn wir wollen, gibt es da noch einen weiteren Punkt anzusprechen: Unser Schatten-Selbst – welches im Missbraucher gespiegelt wird. Wir sehen wie die Verkörperung des Bösen in den dunkelsten, tiefsten Orten im Leben eines Menschen entsteht und wir fragen uns, wie ein Mensch so etwas tun kann? Was ist es, was irgendjemanden von uns daran hindert, Gräueltaten zu verrichten? „Ich nicht“ - sagen wir. Aber die Banalität des Bösen erschüttert unser Bewusstsein mit lautem Schrei, sobald wir erkennen, dass das Böse in Jedermann lauert.

Das Bild ihres Vaters im Album zeigt einen unauffällig aussehenden, leicht gelangweilten Mann, der vielleicht ein kühler Vater sein mag, welcher sich ein wenig mit den Sorgen und Belastungen des nächsten Tages beschäftigt; aber er sieht aus wie ein anständiger Mensch. Dennoch betrachten wir immer wieder dieses Bild, um vielleicht einen Hinweis dafür zu entdecken,was unter der Oberfläche lauert - denn die Person, die in unserer Praxis sitzt, erzählt von unaussprechlichen Gräueltaten, die durch seine Hand begangen wurden. Ist dies denn so schwer zu glauben? Diese Geschichte erinnert uns jedoch an den schrecklichen Fehler, ein Buch nach seinem Einband zu beurteilen: die Männer von Nürnberg sahen nicht aus wie Monster. Ja, es ist schwer zu glauben, dass wir, mein Nachbar und ich, in der Lage sind solch Übel auszuüben. Wir müssen wissen, dass wir es sein könnten, denn mit diesem Wissen haben wir die Macht zu wählen, und mit dieser Wahl können wir unsere Freiheit sichern. Durch diese Freiheit halten wir nun mit dieser zersplitterten Seele eine Sitzung – arbeiten wir, egal auf welche Weise, in dem Bestreben an Stelle von Schmerz, Heilung zu ermöglichen. Diese Menschen, die verzweifelt versuchen einen Tag nach dem anderen zu überstehen, kommen zu uns auf der Suche nach etwas, was sie nicht benennen können, nach etwas, was die Trostlosigkeit und die Schmerzen lindert. Und obwohl der tatsächliche Missbrauch bei den meisten bereits in der Vergangenheit liegt, sobald sie unsere Hilfe aufsuchen, bleibt das quälende Vermächtnis der Vergangenheit bestehen. Sie erzählen ihre Geschichte ohne es zu wissen mit ihren Augen, mit ihren Körpern, mit ihren Handlungen, und nicht zuallererst mit ihren Worten.
Für sie sind Worte verhasst, denn ihnen wurde mit Messern an ihren Kehlen befohlen, niemals etwas von dem Geschehenen erzählen zu dürfen - nichts davon zu verraten. Außerdem glauben sie, dass selbst das Aussprechen des Erlebten, die Verzweiflung und das Grauen betonen und wiederbeleben wird. Bloß stille Schreie sind erlaubt. Und in der Nacht plagen bruchstückhafte Bilder von Horror-Szenen, Geräuschen, Gerüchen, und Empfindungen, die Dunkelheit. Der Schlaf ist der Feind, der sie in eine heulende Hölle unter die Erdoberfläche zieht. Dennoch erzählen sie uns nichts davon, wenn sie in unsere Praxis kommen - zumindest nicht mit Worten. Zu Beginn müssen wir hören, was sie uns nicht sagen können. Wir hören ihnen zu wie sie uns über Beziehungsprobleme, Probleme mit Drogen, Ernährung, Depressionen oder Angst sprechen - wir stellen sie in einen Bezugsrahmen worin wir uns wohl fühlen – denn dies ist vertrautes Terrain. Wir wissen, dass es das Böse da draußen gibt, aber es berührt uns nicht; wir sind sicher in unseren geschützten Kokons. Aber ein unheilvolles Dunkel bahnt sich an: sie beginnen von Flashbacks zu erzählen, sie berichten über das Grauen; ihr Entsetzen schwappt heraus. Und bald können wir das ekelerregende Dickicht des Bösen spüren, - sobald ihre Geschichte unsere Kokons zerstören, sodass wir für einen Augenblick nackt und zitternd sind. Hiermit endet unsere Unschuld abrupt.
Dann versuchen wir die Standardschutzmanöver einzusetzen. Wir leugnen. Wir schließen unsere Augen und Ohren, wir wechseln geschickt das Thema ohne es selbst zu bemerken. Wir betrachten ihre Augen nicht zu genau, denn so müssen wir den brennenden Schmerz nicht sehen. Wir nennen sie psychotisch. Wir sind ungläubig. Wir reden uns selbst ein, dass man die Fakten womöglich nie genau ermitteln kann: man kann, nehme ich an, solch schreckliche Geschichten erfinden, aber es benötigt eine ganze Menge um eine Seele zu zersplittern, und dieses Zersplitterte kann man nicht vortäuschen. Wenn Sie jemals in der Gegenwart von einer gesessen haben, dann werden Sie dies erkennen.
In dem Moment in dem Sie mit der Realität dieses Zersplitterns in Verbindung sind, ist es als würde man mit einem heißen Stab durchbohrt, was einem den Atem raubt – man kommt in einen Strudel von Traurigkeit und Horror; dann füllt es einen mit einer schweren Kälte – vielleicht auch nur für einen Moment, aber Sie wissen es und Sie werden es nie vergessen. Einige von uns glauben ihre Geschichten, und wir glauben ihnen mit aller Macht; wir werden wütend, wir toben. Wir konzentrieren uns auf die Täter, spielen Detektiv, drängen sie zum Handeln, zur Rache; wir arbeiten für Gerechtigkeit. Jedoch gibt es etwas in dieser vernichtenden Wut, welches den nagenden Terror, den wir von einem tiefen Ort aus spüren, verhüllt. Wir ziehen uns wieder zurück, distanzieren uns auf subtile Weise und lassen somit den Überlebenden alleine.
Und dann, endlich, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, hören wir damit auf. Wir kehren um und stellen uns dem, wovor wir so verzweifelt fliehen. Einige können dem Grauen mit Mut begegnen; die meisten von uns stellen sich dem Grauen widerwillig, mit Furcht und Zittern: unser eigenes „Opfer Selbst“, wenn nicht von Missbrauch, dann von unserer Sterblichkeit. In all unserer Verletzlichkeit und Hilflosigkeit, in unserem Alleinsein und unserer Verzweiflung, finden wir uns mit Blick auf die Leere einer schrecklich persönlichen Existenzangst wieder. Das Vermächtnis unserer Sterblichkeit wird mit einer grausamen Realität nachhause gebracht: es besteht aus Einsamkeit, aus Vernichtung, aus Sinnlosigkeit, und aus mangelnder Freiheit. Wir sehen es manifestiert in den Augen der Seele, die vor uns sitzt; es starrt uns an bis wir entweder davonlaufen oder zurückstarren. Wenn wir nicht davonlaufen, kämpfen wir damit – mit dieser existentiellen Unsicherheit, sowie jeder dies tun muss, egal welchen Glauben man hat.

So sitzen wir da, nicht nur als Heiler die heilen, sondern als zwei Seelen auf einer Reise, die jeweils der Leere gegenüberstehen, jeweils alleine und doch in Gemeinschaft. Ein tosender Lärm der Qual wirbelt in der erbitterten Stille, die zwischen uns herrscht, umher. Dieses Geräusch stammt von der Vergangenheit, von den Momenten während des Missbrauchs, die für die Überlebenden am unerträglichsten waren; wenn wir uns dafür entscheiden, werden wir es hören. Die Leidtragenden verstecken sich darin, verzweifeln daran jemals davon befreit zu werden, ohne dabei in der Lage zu sein zu erkennen, dass sie es tatsächlich überlebt haben. Wir können es ihnen beibringen, wir können ihnen dabei helfen, sich von dem tödlichen Griff der Vergangenheit zu befreien; wir können ihren Geist mit guter Therapie heilen; aber eine zersplitterte Seele zu heilen, wird viel von uns abverlangen und Energie kosten. Um dies zu erreichen, müssen wir unsere eigene Seele kennen. Dies muss also getan werden: Wir müssen bereit sein, uns zuallererst um uns selbst zu kümmern, - uns selbst zu leeren, um achtsam mit den Klängen beisammen zu sitzen, die wir eher mit unserer Seele wahrnehmen, als mit unseren Ohren, - um unseren eigenen Lücken mit Klarheit begegnen zu können, - um unsere eigenen seelischen Qualen und den Kummer unserer eigenen Seele zu erkennen.

Das Geschenk der Überlebenden an uns ist, dass sie uns zu jenem Ort in uns bringen, den wir in unserem geschützten Leben sonst nie in solch einer Tiefe erreicht hätten. Und dann werden wir jenes Geräusch erkennen, welches ursprünglich unser eigenes ist und sich mit dem alten, kollektiven Schrei einer leidvollen Welt vermengt hat; für einen langen und schrecklichen Moment erkennen wir es und werden ein Teil von der gesamten Qual dieses sterblichen und unvollkommenen Planeten.
Wir stehen an der Schnittstelle unserer Welt so wie wir sie kennen und diese andere, diese Welt der Alpträume, die sich so schrecklich verloren und klein anfühlt, weil sie plötzlich aus unseren grünen Wiesen ins Tal der Schatten und des Todes transportiert wurde. Die Grundannahmen mit denen wir unsere eigene Sicherheit begründen, zerfallen und somit werden wir verwirrt und ängstlich. Unsere Überzeugung, "Ich glaube unsere Welt ist sicher und ich bin unverwundbar; ich sehe mich selbst in einem positiven Licht; ich bin frei; ich kann frei wählen," zersplittert. Für den Therapeuten, kann dies ein neues und beängstigendes Gebiet sein.
Die Ausnahme sind natürlich Therapeuten, die selbst Überlebende sind. Therapeuten als Überlebende sind Schmelztiegel aus denen ein schrecklicher Segen hervorgeht - ein gnädiger Fluch. Das ist der Segen: sie sind mit dem Weg der Heilung vertraut und kennen diesen ganz genau, sie wählen dieses kostbare Geschenk für sich selbst und teilen es dann schließlich mit anderen. Dies ist allerdings die Schattenseite – der Fluch: sie sind mit dem Weg der Angst vertraut und kennen diese ganz genau, sie wissen, dass ihre eigene Zersplitterung der Preis für diese Angst ist, und sie wissen dass ihre eigene Seele für eine Zeit lang in die elende Finsternis gerissen wird.
Nichtsdestotrotz, beginnt sogar der Therapeut, der kein Überlebender ist, die Auflösung seines Glaubensbekenntnis und seiner Stabilität zu erleben. Wir müssen alle die schwierige und schmerzhafte Aufgabe des Wiederaufbaus unserer Sicherheit im Sein angehen, um zu wissen, dass wir in Sicherheit leben können und Teil einer Welt sind, die Bedeutung hat. Während wir uns dem Alleinsein und unserer Verletzlichkeit stellen, müssen wir den Spieß umdrehen und die Macht und Kraft all dieser Verbindungen finden, die uns eben diese Sicherheit schenkt.
Manchmal komme ich nach einer schwierigen Sitzung nach Hause und habe immer noch einen besonders brutalen Moment im Leben eines anderen vor Augen. Nichtsdestotrotz koche ich das Abendessen, obwohl ich noch vor einer Stunde wieder am Rande eines dunklen Abgrunds stand. Diese mangelnde Übereinstimmung empfinde ich seltsam und zugleich tragisch. Dann sehe ich voller Ehrfurcht und Erleichterung den albernen Grimassen meiner Kinder zu; ich sehe ihr liebevolles Gezänk; ihre auserlesenen Verwundbarkeiten; ihre bereitwillige Offenheit zu lieben und geliebt zu werden; ihre innige, kraftvolle Leidenschaft einfach zu leben. Sie sind das Leben - wachsend, frisch, rein, gut. Ich werde stark daran erinnert, dass all dies, an der Seite meiner unvermeidlichen Begegnung mit dem Tod ist. Ich habe ein Leben, ich habe Sinn. Ich kenne Schmerz, und ich kenne Heilung. Fürs erste ist das Leben gut. Ich bin dankbar dafür. Ich bin erfüllt. Die Weite der Finsternis (meine eigene und die andere) tritt zurück und scheint weniger Ansprüche an meine Aufmerksamkeit zu stellen als dieses kleine und gewöhnliche Stück Leben, welches in meiner Küche stattfindet. Womöglich habe ich eine dissoziative Fähigkeit eingesetzt, um meine Sicherheit wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wir sehen anhand von Überlebenden, dass man mit Sicherheit lediglich existiert und nicht leben kann. Auf der anderen Seite, enthält dieses gewöhnliche Stück Leben vielleicht eine größere Macht als wir es uns jemals erträumen konnten: Es ist ein bedeutungsvoller Moment mit den Möglichkeiten der Liebe und Kreativität (Spontaneität). Dafür leben wir. Dann wissen wir, dass wir nicht alle Antworten haben werden - sobald wir wissen, dass es viel größere Dinge gibt als unser kleines Selbst, machen wir einen tiefen Atemzug und finden einen Weg, um uns wieder in die wiegende Gnade der Güte zu begeben. Wir wenden uns wieder der bevorstehenden Aufgabe zu und finden die Überlebenden vor, die immer noch auf unserer Couch sitzen und warten.
Wie soll man nun mit einer zersplitterten Seele eine Sitzung halten?
Sanft, mit freundlichem und tiefem Respekt: Geduldig, denn für die zersplitterte Seele steht die Zeit still und der Impuls der Heilung wird zu Beginn langsam erfolgen.
Mit zärtlicher Kraft, die einer Offenheit für Ihre eigene tiefste Verwundung entstammt,und Ihrem eigenen tiefen Heilungsprozess dient. Fest und sicher – in nie nachlassender Grundüberzeugung, dass das Böse mächtig ist, es aber ein Gutes gibt, das noch mächtiger ist. Bleiben Sie in ihrem gesamten Wesen, mit dem Guten in Verbindung, wie auch immer es sich Ihnen zeigt. Machen Sie sich vertraut mit den eigenen Schatten, die sich in Ihrem tiefsten Inneren befinden. Öffnen Sie sich dann selbst und alles was Sie sind, dem Licht. Geben Sie aus freien Stücken. Nehmen Sie reichlich davon auf. Finden Sie Ihre Sicherheit, Ihre Zuflucht, und begeben Sie sich dorthin, sobald Sie es für notwendig halten. Hören Sie gut zu, so gut Sie können, und seien Sie ehrlich um jeden Preis.Worte werden nicht immer kommen; manches mal gibt es keine Worte angesichts des Bösen. Doch in Ihrer Bereitschaft mit der zersplitterten Seele zu sein, wird sie Sie hören; von Seele zu Seele wird sie hören, wofür es keine Worte gibt.

Wenn Sie können, wenden Sie sich, ganz in Ihrem eigenen Tempo um und konfrontieren Sie sich mit dem tiefen Abgrund in Ihrem Inneren - und dann lassen Sie los. Kummer, Wut, allein und gemeinsam vergossene Tränen. Suchen Sie die Menschen auf, denen Sie vertrauen und erlauben Sie es ihnen, bei Ihnen zu sein. Verlernen Sie nicht zu lachen, vertrauen Sie der heilenden Kraft des Humors. Vertrauen Sie sich selbst. Vertrauen Sie dem Prozess. Begrüßen Sie Ihre Welt, diese Welt, die Sie im Hier und Jetzt sicher und geborgen hält. Halten Sie die kleinen, zarten Glücksmomente des Augenblicks fest. Lassen Sie es zu geliebt zu werden. Lassen Sie es zu, dass Sie lieben. Die zersplitterte Seele wird heilen.
Die Seele hätte keinen Regenbogen,
wenn die Augen nicht weinen könnten.
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Re: Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Übersetzung von Emer Seilern

Beitragvon tunnelblick » Fr 23. Jan 2015, 18:23

Hey Gimeon,

danke für das Einstellen des Textes. Er ist wirklich wundervoll und trifft so vieles genau auf den Punkt und zeigt den Blick von therapeutischer Seite. Der Inhalt gibt wirklich ein wenig Hoffnung, weiter zu kämpfen...

Viele Grüße
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Re: Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Übersetzung von Emer Seilern

Beitragvon Pina » Sa 24. Jan 2015, 17:08

Danke.

Ja der Text ist wirklich wundervoll.

Bin Sprachlos wie gut er manches trifft.

Danke danke danke fürs reinstellen!
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Re: Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Übersetzung von Emer Seilern

Beitragvon unkraut » Sa 24. Jan 2015, 18:01

der tut soo weh der text.
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Re: Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Übersetzung von Emer Seilern

Beitragvon Pina » Sa 24. Jan 2015, 18:15

@unkraut

Oh haben wir etwas falsches geschrieben? Wir empfinden den text als sehr treffend.

Aber sicher ist das auch etwas was immer mit persönlichen Erfahrungen zusammenhängt.

Hoffen nur, WIR haben auch mit unserem Kommentar ebend nicht verletzt...

Liebe Grüße
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Re: Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Übersetzung von Emer Seilern

Beitragvon unkraut » Sa 24. Jan 2015, 18:21

Oh nein!! bitte entschuldige! ich hab sicher nur den text gemeint. kann immer nur einzelne sätze lesen, wie fetzen. und halts nicht aus. zerreisst schier. ich glaub wegen meinem thera ist das. weiß nicht. aber furchtbar. sorry! würde ihn gerne lesen überhaupt mal.
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Re: Einer zersplitterten Seele beistehen. Text von Cathy Steel; Übersetzung von Emer Seilern

Beitragvon Pina » Sa 24. Jan 2015, 18:36

Ihr braucht euch nicht entschuldigedan...

Sicher haben wir es dann falsch verstanden...

Wir hatten nur Angst, wir haben euch verletzt...da sind wir immer ganz unsicher...

Das tut uns Leid, wie es euch mit dem text geht...

Setzt euch da nicht unter druck mit dem lesen. Es ist gut wenn ihr da auf euer Gefühl hört und achtet.
Und der text läuft ja nicht weg. ...... :-)

Alles Liebe

Pina
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