Pressebericht mit Erklärungen zur DIS ehemals MPS




Pressebericht mit Erklärungen zur DIS ehemals MPS

Beitragvon dewdrop » Di 1. Mai 2007, 13:00

Dieser Text stammt von Holde Babara Ulrich.
Der Artikel erschien am 23.3.2000 in der Wochenzeitung
DIE ZEIT (Ausgabe 13/2000).

Die Namen der Handelnden wurden aus Schutzgründen geändert
Vielen Dank für die Erlaubnis den Text hier einzustellen


Giovanna ist viele

Diese Geschichte erzählt, wie sich die Seele eines Menschen in höchster Not zu retten versucht. Am Ende stehen 44 Personen, die in einem Körper leben. Wissenschaftler sprechen vom Phänomen der Multiplen Persönlichkeit.

Ihre Mutter setzt sie vom Sofa auf den Boden. Ziemlich unsanft diesmal. Vor ein paar Tagen hat diese Frau sie aus dem Heim geholt und gesagt, dass sie ihre Mutter sei. Giovanna drängt sich an das Knie der Frau und versucht erneut, auf ihren Schoß zu klettern. Die Mutter gibt ihr einen Schubs, dass sie hart auf die Dielen fällt. Großvater Karl blickt erstaunt von seiner Zeitung auf. Das Kind fängt an zu weinen.

»Komm«,sagt die Frau genervt. Sie zerrt die Kleine an einem Arm hoch und zieht sie hinter sich her. Ein paar Steinstufen hinab, über den Hof, zum Kohlenkeller. Stößt sie in die dunkle Höhle, wirft die Tür zu und dreht den Schlüssel rum.

Ein leichtes Scheppern am Schloss. Langsam schiebt sich die Tür wieder auf. Giovanna sieht, wie sich der Mann, der Karl heißt und den sie Opi nennt, vorsichtig durch den hellen Spalt zwängt. Sie schluchzt laut auf vor Erleichterung und klammert sich an ihm fest. Der Mann zieht ihren Kopf an seinem Leib, fängt an zu keuchen. Er hebt sie hoch, zieht ihr die Unterhosen aus, öffnet seinen Gürtel, schiebt seine Kleidung nach unten. Mit einem Arm presst er sie fest an sich, mit dem anderen greift er ihr von hinten zwischen die Beine, stößt mit dem Finger in sie hinein, drückt sie sich auf den Schoß. Ein greller Schmerz. Nur kurz. Bis sie die Besinnung verliert.

Opi hat lange mit ihr zu tun. Ab und an stößt ihr Bewusstsein in das Keuchen und Grabschen zurück, versinkt wieder. Einmal kommt sie vor glibbriger Atemnot zu sich, erbricht sich würgend und hört Opi beschwichtigend murmeln:»Nur stille, stille, Kind«. Irgendwann ist sie wieder bei sich. Verschmiert, ein wundes, zermartertes Tier, und wie ein Tier winselt sie. Über ihr Opis Gesicht. Er drückt ihr die Hand auf den Mund. »Psst, psst !«. Dann legt er sie wieder zurecht. Sie sieht das spitze blutige Messer vor seinem Bauch. Ihr ist eiskalt. Sie kann die Kälte nicht länger ertragen, und von dem Messer würde sie sterben. Sie muss sich verstecken. Irre vor Kälte, rollt sie sich ein. Ganz in sich zurück. Eine winzige, warme Murmel. Schmerz, Angst, Einsamkeit- eingerollt. fest verpackt. Nichts mehr spüren.

Giovanna ist fort im Unbewussten. Ein anderes Wesen nimmt ihren Platz ein- die Steinerne Blume. Schmerzfrei, gefühllos, gefügig. Sie spürt Opis Messer nicht, als es in sie eindringt. das Erlebnis des Schmerzes ist nicht in ihr. Sie lässt sich von Opi besudeln, ersticken, zerreißen und hat keine Angst. »Na, siehst du, mein Schatz«, sagt Opi zufrieden. Er weiß nichts von der Verwandlung. Rein äußerlich ist da noch immer das blond gelockte, süße kleine Mädchen. Als die Mutter endlich kommt, das unartige Kind zu holen, sagt der Großvater:» Kleine Kinder sperrt man nicht so lange in den Kohlenkeller.« Er schließt seinen Gürtel und geht auf den Hof. Als hätte sie alles nur geträumt, erwacht Giovanna. Das flüchtige Bild eines anderen, hilfreichen Kindes ist da. Schwester oder Bruder vielleicht. Schnell vergisst sie es wieder. » Komm jetzt nach oben«, sagt die Mutter versöhnlich. Giovanna fasst ihre Hand, setzt sich an den gedeckten Tisch und isst ein Stück Kuchen. Heute ist ihr dritter Geburtstag.

Giovanna mag ihren Opi. Er ist der Einzige, der ihr nach dem Spaß, den er mit ihr hat, über den Kopf streicht, ihr ein Stück Schokolade schenkt. Ein nachsichtiger, gutwilliger Mann, der Geschichten vorließt. das Kind liebt die Prinzen, Feen und Zauberer. Wenn die Not groß ist, kommen sie- einzeln, manchmal zu zweit, bei Todesgefahr auch zu dritt. Ihre Fluchthelfer. Sie selbst ist eine Überlebende.

Die Mutter, von Giovanna später nur noch Adoptionsfrau genannt, badet das Kind. Sie bürstet zu hart, die Kleine fängt an zu weinen.»Still!«, sagt die Frau und schrubbt noch eifriger. Giovanna entzieht sich. Die Frau packt das Kind, drückt es mit dem Kopf unter Wasser. Lange. Die Augen scheinen zu platzen, Qual des Erstickens. Als das Kind japsend und hustend auftaucht, wiederholt sie die Prozedur. Wieder und wieder. Das Kind spürt nichts mehr, hat sich eingerollt. Nicht ins Dunkel, wie Giovanna den Tod nennt, nur eine unbestimmte Zeit in den Zwischenraum des Vergessens. Aus dem Wasser steigen nach der Tortur drei neue Personen: die Meerjungfrau, Nixe 1 und Nixe 2. Sie bleiben, bis die Gefahr vorüber ist und Giovanna aus dem Badezimmer tritt. Künftig werden sie immer da sein, wenn das Wasser in die Wanne rauscht.

Die sadistischen Abrichtungen durch die Adoptionsfrau, die sie Erziehungsmaßnahmen nennt, setzen sich fort. »Wo ist rechts, wo ist links ?« Giovanna zuckt mit den Achseln. »Leg deine Hand an den Türpfosten«, verlangt die Frau. »Siehst du, und jetzt kommt ein Sturm.« Sie wirft die Tür ins Schloss. »Da, wo es weh tut, ist links«, sagt die Frau, als sei es ein Spiel. Giovanna versinkt in grellroten Wellen des Schmerzes. Schneeweißchen und Rosenrot tauchen auf- unbeteiligt, tränenlos, schmerzfrei.

Für Opi, der die mittlerweile Fünfjährige Nacht für Nacht in sein Bett holt, und auch für den Adoptivvater, einen Fernfahrer, der nur ab und an seine Gelüste an ihr stillt, hält sich die Steinerne Blume bereit. Rothand wird kurze Zeit später geboren. »Du weißt immer noch nicht, was heiß und kalt ist ?« Die Frau schaltet den Herd auf drei. Als der Kessel pfeift, nimmt sie ihn von der Platte. »Leg deine Hand dorthin«, befiehlt sie dem Mädchen. Giovanna folgt und zieht sich im selben Moment in sich zurück. »Na, siehst du, jetzt weißt du's«, sagt sie. Rothand schaut artig zu ihr auf und nickt.

Die barbarischen Akte hören nicht auf. Giovanna ist immer auf dem Sprung. Stets in Todesangst, hat sie ihre feinen Antennen auf Empfang gerichtet. Sie muß auf der Hut sein, sich einrollen, ehe es zu spät ist. Instinktiv erkennt sie den richtigen Punkt. Ist es die Adoptionsfrau, ihr farbloser Mann oder Karl ? Einer von ihnen kommt auf eine satanische Idee. Giovanna ist gerade sechs; die Zeit der märchenhaften Innenpersonen geht jäh zu Ende.

Die Mutter ist Kellnerin in einer Hamburger Bar. Das Umfeld provoziert Gelüste perversester Art. Es ist ihr ein Leichtes, draus ein Geschäft zu machen. Am ersten der unzähligen Abende, die folgen werden, bringt sie zwei Männer mit nach Haus. Das Kind wird auf den Küchentisch gelegt. Die Männer tun dasselbe mit ihm, was Opi Nacht für Nacht mit der Steinernen Blume macht. Nur dass es zwei sind und das alles auf einmal passiert- zerreißen und ersticken. Die Frau hält dem Kopf fest und sagt »Hab dich nicht so, das ist doch nichts Schlimmes.« Opi fotografiert, der Adoptivvater hält das Ganze mit der Schmalfilmkamera fest. Der Adoptionsfrau fallen immer neu Spiele ein. Der Stundenpreis steigt, die Zahl der Kunden auch. Die Steinerne Blume ist den ständig wechselnden Vergewaltigungen nicht länger gewachsen. Sie rollt sich nicht ein, sondern ruht sich eine lange Zeit aus. Sie dreht sich weg, wie Giovanna sagt. Liebling springt ein. Und für die härtesten Kunden kommt Flittchen ins Spiel.

Die Adoptionsfrau ist kein Unmensch. Sie kauft dem Mädchen hübsche Kleider, putzt es heraus. Sie schenkt ihm ein Akkordion und bezahlt einen teuren Musiklehrer. Giovanna ist eine begabte und fleißige Schülerin. Die Nachbarn hören es und loben sie. Mit elf ist sie das erste Mal schwanger. Die Zeit der Abtreibungen beginnt. Die Rote kommt hinzu und lässt die nach warmen Blut dünstenden Tötungsprozeduren klaglos über sich ergehen. Giovanna fehlt oft im Unterricht. Ihre Leistungen sind ohnehin nur mäßig. Mit 15 bringt sie einen Sohn zur Welt und verlässt die Schule. Ihn abzutreiben war schon zu spät. Zu ihrem großen Unglück entscheiden die Eltern, das Baby zur Adoption freizugeben.

Beim ersten Mal, als ich Giovanna begegne, ist sie 45 Jahre alt. Rundes Gesicht, weicher Mund, bernsteinfarbene Augen. Wie ein Strahlenkranz um das Gesicht ein grauer, krauser Afroschopf. Ein großes T-Shirt über einer weiten, bunten Hose kaschiert ihre Rundlichkeit. Der Kreis ihrer inneren Helfer umfasst mittlerweile 44 Personen: Erwachsene, Jugendliche, Kinder - männliche und weibliche. Einige weggedreht oder eingerollt. Nicht alle sind miteinander bekannt. Einige ziehen es vor, sich verborgen zu halten. Es gibt keine Einzelperson. Es gibt nur den sichtbaren Außenkörper, der den Namen Giovanna trägt. Um den unauflösbaren, schicksalhaften Zusammenhalt, das Aufeinanderangewiesensein, die Untrennbarkeit des Systems Giovanna zu demonstrieren, spricht sie und sprechen die anderen, sobald sie es wagen, auch nach vorn zu kommen, von sich in der Mehrzahl. Im Laufe der Therapie, die vor drei Jahren begann, hat sich der Kreis gebildet. Versuch einer beginnenden allgemeinen Verständigung. Es ist ein Anfang, der von Zeit zu Zeit in Protest, Unfrieden, Chaos ausufert. Ich möchte über den Kreis schreiben. Giovanna zögert. »Vielleicht«, sagt sie. Tage später:>>Wir denken, es ist okay. Wir haben nur Angst, dass wir dich mit unserem Leben verletzen. Es ist so unerhört schmutzig.<<Bei>> Ein Kran, oohh ein Kran ! Guck mal, ein Kran...keine Angst, nein !« Einer der kleinen Jungen ist wieder da und drückt seine Nase am Autofenster platt. Gerade will ich mich auf ihn einlassen, als Giovanna nach vorn kommt: »Weißt du, was Angst für uns heißt ? Dass Joris und Flora sich von uns wenden. Dass wir uns in uns nicht mehr erkennen. Und dass wir Glück nicht mehr aushalten können. « Ein junger, lebhafter Mann mit brüchiger Stimme mischt sich ein: »Glück ? Cola-Trinken ist Glück.« Giovanna, ein wenig genervt: »Verstehst du was das heißt, ständig mit so vielen Leuten zusammen zu sein ?!« Der Tag ist windig und kühl, schon spät im Oktober. Endlich das Meer. Die Gischt geht hoch, kein Mensch im Wasser. Giovanna- ich denke, es ist Giovanna- stürzt sich aus dem Auto. Jauchzend wirft sie sich in die grauschwarzen fluten. »Mach dir keine Sorgen«, ruft sie, »wir erfrieren nicht. Du weißt doch, heiß und kalt ist uns schon lange abhanden gekommen.« Selbst bei Minusgraden geht Giovanna ohne Strümpfe auf die Straße. Ihre Internistin Sibylle Berg traute ihren Augen nicht, als die Patientin bei Schneetreiben fast barfuß vor ihr stand. Im Laufe der Zeit hat sich die Ärztin an vieles gewöhnt. Abhängig davon, welche der Innenpersonen in die Praxis kommt oder sich während der Untersuchung nach vorne drängt, sei die Patientin überempfindlich oder einen Moment später völlig ohne Schmerzempfinden. Von Person zu Person seien auch Werte wie Blutdruck oder Herzfrequenz verschieden. Eine der Personen sei allergisch, eine andere nicht. Jemand hat eine Halsentzündung und erhöhte Temperatur. Als die Ärztin Fieber misst, hat sie jemand vor sich, der völlig beschwerdefrei ist. Dr. Berg wundert sich nicht mehr, sie hat sich mit MPS vertraut gemacht.>> Wir brauchen dringend eine neue Brille, sagt Giovanna eines Tages. Ich begleite sie zum Optiker. Der Mann macht seine Untersuchungen, notiert die Werte. Das Telefon unterbricht seine Arbeit. Anschließend setzte er seine Messungen fort. Irritiert stellt er die Geräte immer wieder neu ein. Nach einer Weile steht er auf, schüttelt den Kopf und bittet um einen erneuten Besuch; er müsse erst den Techniker holen. Draußen sagt Giovanna:>> Wenn wir wiederkommen, wird es genauso sein. Der Mann kann nicht wissen, dass die Kinder jedes Mal ganz wild darauf sind durch die Linsen zu gucken. Wir haben uns schon damit abgefunden, zeitlebens mit der Lupe zu lesen.<<

Ich sehe sie an. Mir ist, als hätten sich ihre bernsteinbraunen Augen in ein dunkles Blau verwandelt. Die Blauäugige, von der Giovanna erzählt hatte. Kann das sein? Oder will ich es sehen, weil ich an Giovannas Geschichte glaube? »Vielleicht ist es auch nur so etwas banales wie die ganz normale Reaktion der Iris auf verändertes Licht. Giovanna...?«, frage ich unsicher. »Wer weiß«, lacht die Frau mit den blauen Augen und amüsiert sich über meine Verwirrtheit. Ich habe gelernt, mich zu revanchieren. Möchte vielleicht jemand mit mir eine Cola trinken ?, frage ich wie nebenher. der glückliche Cola-Freak kommt augenblicklich nach vorn, und die Blauäugige verschwindet in der Versenkung. Später bemerkt Giovanna beiläufig: »Du bist bald fertig mit deiner Arbeit, nicht wahr ?« Als ich nicke, sagt sie erleichtert : »Dann kehrt endlich wieder Ruhe bei uns ein.«
Benutzeravatar
dewdrop
Administrator
 
Beiträge: 5485
Registriert: Fr 18. Aug 2006, 15:12
Zusatzinfo:: Nicht böse sein, wenn wir nicht sofort antworten. Haben viel um die Ohren aber wir melden uns, versprochen.
Status: Professionelle/r und Betroffene/r
Mir geht es gerade: müde/erschöpft

von Anzeige » Di 1. Mai 2007, 13:00

Anzeige
 

Beitragvon Sarah-Chantal » Di 1. Mai 2007, 17:27

Danke dir Tautropfen.

Kann nichts sagen. Bin sprachlos.

Kann nur danke sagen.

Für die Geschichte

Gruß
Sarah-Chantal
 



Ähnliche Beiträge


Zurück zu Um was geht es hier?

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron